Interview Prof. Dr. Dieter Daniels mit Silke Koch, 2007 zum Katalog Rock My Tradition

DD Rock My Tradition – ist dir dieser Titel eigentlich auf dem New Leipziger Oktoberfest eingefallen? Du hast dort ja einen sehr – vorsichtig ausgedrückt – kreativen Umgang mit deutscher Tradition kennengelernt.
Es ist eine sehr schräge fremde Form von deutscher Tradition, die dort praktiziert wird. Es ist ja auch total verrückt, in New Leipzig, im Bundesstaat North Dakota in den USA Leuten zu begegnen, die nicht sächseln sondern schwäbeln, wenn sie denn deutsch können. Das sind die Nachkommen ausgewanderter Russlanddeutscher, die ein sonderbares Interesse daran haben, ihre Geschichte aufzuzeichnen. Das wieder ist sehr amerikanisch, dieser Drang, große Chroniken anzulegen. Über den 250-Seelen-Ort New Leipzig gibt es ein 688-seitiges Buch. Der Ort hieß ursprünglich Old Leipzig, bis er 1910 zugunsten der neuen Eisenbahn 12 Meilen nach Süden verlegt wurde. Der neue Ort hieß dann New Leipzig.

Dann bezieht sich das "New" ja gar nicht auf unser Leipzig, sondern auf irgendein verschwundenes Old Leipzig! Hat unser Leipzig denn überhaupt irgendetwas mit diesem New Leipzig zu tun? Oder, allgemeiner gefragt: hat dieses Deutschsein dort irgendetwas mit deinem Deutschsein zu tun?
Kaum. Aber was heißt das schon. Mein Deutschsein unterscheidet sich ja auch von dem Deutschsein von Leuten, die im Westen aufgewachsen sind. Und genau das ist es ja, was mich interessiert: Diese Konkurrenz von Identitätsmodellen. Weil ich selbst die Erfahrung gemacht habe, die eigene Identität plötzlich überprüfen zu müssen.

Du meinst die Wende?
Ja. Ich bin ja schon kurz vor der Wende in den "Westen" gegangen. Und dort habe ich Gleichaltrige getroffen, die ganz andere Bücher gelesen hatten, ganz andere Filme gesehen, ganz andere Helden hatten. Da begann für mich die Frage, was ist denn deutsch?

Und vor der Wende war dir das klar gewesen?
Ich hatte mir die Frage so nicht gestellt. Aber jetzt wurde ich plötzlich mit einer Identität konfrontiert, die mir ganz fremd war. In England und Frankreich zum Beispiel wurde ich als Deutsche wahrgenommen, nicht als Ostdeutsche.

Das klingt ja erstmal nicht so schlimm.
Es hat mich kolossal irritiert. Plötzlich wurde ich mit einer Haltung konfrontiert, die ich in Bezug auf mich nicht kannte. Und zwar: Du bist deutsch, du bist Nazi. Denn im Osten war ja meine ganze Identität darauf aufgebaut, dass wir diejenigen waren, die sich vom Nazi-System abgesplittert hatten. Wir hatten den absoluten Bruch gemacht, wir waren russisch besetzt, wir waren die Antifaschisten, kurz: Wir waren die Guten. Dass das plötzlich nicht mehr stimmen sollte, war eine Erfahrung, die ganz viel in Gang gesetzt hat. Denkprozesse, für die ich seitdem Ausdrucksformen suche.

Diese Brüchigkeit der eigenen Identität – hast du die auch bei den New Leipzigern gefunden?
Einerseits verstehen sich die Leute dort als Deutsche – andererseits wissen sie aber fast nichts von Deutschland. Zum Beispiel etwa, dass es in Leipzig kein Oktoberfest gibt. Auf dem New Leipziger Oktoberfest wird übrigens zwar Bier getrunken, aber aus Flaschen. Es ist ein Mix aus ganz vielen Kulturen: dj, countryband, traktorparade, knepfle-soup, fleichkichle, drei Tage Fest...

Dich interessieren eher die unterschiedlichen Vorstellungen über Identitäten als die unterschiedlichen Identitäten selbst?
Ja, deshalb muss man das auch gar nicht an der deutschen Identität festmachen. F1 habe ich in Italien gezeigt, und dort konnten die Leute auch sehr viel anfangen mit dieser Identitätssuche über deren Beflaggung. Und in Amerika sowieso. Die Arbeit handelt ja auch von den Vorstellungen, die man zu einer Fahne und deren Ort haben kann, und nicht bloß von Fahnen in Ost und West.

F1 ist deine erste Installation. Dabei hast du eigentlich Fotografie studiert. Warum bist du deinem Medium untreu geworden?
Da muss ich ein bisschen ausholen. Ende 1989 habe ich in Westdeutschland gewohnt, und wenn ich in Leipzig zu Besuch war und durch die Stadt gelaufen bin, haben mich Bilder der Vergangenheit eingeholt. Am früheren Karl-Marx-Platz an der Uni standen so zirka fünfzehn Fahnenstangen, und die sahen irgendwie leer aus. Ich hab mich gefragt: Wie war das eigentlich vorher? Da waren Bilder in der Erinnerung. Es fällt einem erst auf, wenn es weg ist. In der Bundesrepublik gab es jede Menge Fahnen, aber an ganz anderen Orten als in der DDR, zum Beispiel vor Autohäusern und Gewerbezentren. In der DDR gab es eine Unmenge an gestalteten Fahnenstangen, die sahen dann aus wie der Eiffelturm oder eine Rakete oder waren mit Bronzetafeln verziert. Davon habe ich Fotos gemacht. Aber ich hab gemerkt, ich kann die Bilder, die ich assoziiere, nicht in Fotografie umsetzen. Ich hab dann meinetwegen Erfurt oder Gera oder Leipzig auf dem Bild, aber nicht das, was im Kopf passiert.

War das ein Schock, als du gemerkt hast: Mist, ich komme mit Fotos nicht weiter?
Es war eine absolute Verunsicherung. Aber ich hatte die – blödes Wort – Intuition, ich muss was Großes, Raumfüllendes machen. Nicht so klein und modellhaft und in gewisser Weise verniedlichend wie Fotografien, sondern eine Projektion, die in ihrer ganzen Gewalt da steht.

Mit Ständige Vertretung gehst du noch weiter. Da gibt es nur noch die Fahnen, und nicht mal mehr Wörter.
Dafür gibt es den Sound, und der ruft noch direkter Assoziationen hervor. Der eine denkt an seine Armeezeit, der andere ans Segeln. Sowieso – die Leute haben unwahrscheinlich viele Bilder im Kopf, man muss sie nur stimulieren, Raum dafür haben. Für Höhen, die Installation, in der es um die Suche nach dem Sinn des Seins geht, hab ich sogar Anselm Kiefer deshalb vertrieben. Sein Name hing an dieser Säule in der Bonner Kunsthalle irgendwo da oben. Aber ich brauchte natürlich eine leere, weiße Säule, nach oben offen.

Wow. Du sagst das völlig ironiefrei: Die Suche nach dem Sinn des Seins. Du hast gar keine Berührungsängste mit den ganz großen Themen, oder?
Also. Der Ausgangspunkt von Höhen war ja dieses Hollywood b-movie mit ganz viel Pathos und so einem süßlichen Filter vor den Bildern, da kann man ja gar keinen Respekt mehr haben.

Aber du hast dir doch bestimmt nicht vorgenommen, ein Kunstwerk über den Sinn des Seins zu machen.
Nein. Wie das angefangen hat, war wieder mal sehr mystisch. Ich wohnte mit Kohleofen, und es war zu kalt zum Aufstehen. Da bin ich im Bett geblieben und hab den Fernseher angemacht und es kam auf Sat 1 dieser Film. Und ich dachte, wow, die Dialoge sind ja so perfekt. Und dazu diese 50er Jahre-Optik mit Weichzeichner, das ist überhaupt nicht meine Ästhetik.

Ja, das stell ich mir auch schwierig vor. Der Film ist ja schon das Endprodukt einer künstlerischen Leistung, wenn man so will. Und du schöpfst dann den Rahm von dieser Arbeit ab und benutzt sie einfach für deine Arbeit.
Das ist alles Material, das mich umgibt: Film, Fernsehen, Zeitung, ein Bombenattentat, der Zusammenbruch eines Systems... Ich sehe das nicht als Klau an, sondern als Wertschätzung, wenn mich das Werk eines anderen zur Auseinandersetzung anregt. Trotzdem ist es natürlich schwieriger mit Material, das jemand schon auf eine Essenz runtergekocht hat. Aber ich hab da wenig Skrupel.

Und du hast ja sozusagen ein Anti-Hollywood-Stück daraus gemacht, weil es keine Dramaturgie mehr gibt.
Ich interessiere mich für John Cage. Dass man eben nicht eingreift, sondern den Ablauf dem Zufallsprinzip überlässt. So wie im Drama, mit Höhepunkt und Klärung, so ist das Leben doch nicht. Ich habe 60 Textfragmente aus dem Film isoliert und lasse sie per Zufallsgenerator, teilweise mit Überlagerungen, einspielen.

Beethoven – Geburtsort unbekannt ist ja eine subtile Demütigung der Stadt Bonn.
Ja, die Bonner fühlten sich provoziert. Das Selbstverständnis der Stadt hat sowieso schon einen Knacks, seit die Regierung nach Berlin gezogen ist. Und dann komm ich und nehme denen auch noch ihren Beethoven weg.

Warum machst du denn so was Gemeines?
Die Motivation für die Arbeit kam aus den Umbenennungen im Osten. Die Mauer war gefallen und schnell sollte die gesamte Gesellschaft umstrukturiert werden. Nichts war wie zuvor. Anarchie in meinem Kopf. Mich hat besonders das Verschwinden der Namen irritiert. Nicht nur geografisch, sondern gedanklich fehlte plötzlich die Orientierung. Die ganzen alten Helden, die wir belächelt und geehrt hatten, wurden von ihren Sockeln gestoßen und aus dem öffentlichen Leben entfernt. Der Karl-Marx-Platz hieß nun Augustusplatz. Aber was war überhaupt die Verknüpfung zu Karl-Marx, der dort nie gesprochen hat, sondern wenn überhaupt Ernst Thälmann? Hat die Benennung überhaupt etwas mit Authentizität zu tun oder – wieder mal – vielmehr mit der Konstruktion von Identität? Und was passiert mit der Leerstelle, wenn 40 Jahre lang ein Name die Sprache prägt und der dann plötzlich ersetzt wird?

Das klingt auf den ersten Blick – wenn ein Blick klingen kann – nach einer dezidiert ostdeutschen Problematik. Aber du hast diese Fragen ja am Beispiel Beethoven und Bonn durchexerziert. Warum?
Weil ich eine Einladung der Stadtkunst Bonn bekommen habe ... . Nein, im Ernst: Warum brauchen wir eigentlich Denkmäler, die dreimal so groß sind wie wir selbst? Offenbar nicht wegen Beethovens musikalischem Wirken, sondern um seinem Geburtsort die Ehre zu erweisen. Denn auf dem Denkmal heißt es ja nur: "Ludwig von Beethoven, geboren 1770 zu Bonn". Ein Denkmal für den biografischen Zufall eines Geburtsortes?

Ist ein Denkmal nicht in erster Linie ein starkes Symbol, egal was unten draufsteht?
Ja, eben, und was passiert mit diesem Symbol, wenn es demontiert wird? Ich hatte natürlich die imposanten Bilder von der Demontage des Lenin-Denkmals im Kopf, wie der riesige Lenin mit dem Kopf in der Schlinge über Berlin schwebt. Dass Denkmäler, Namen, gesellschaftliche Rituale etc. demontiert werden – das ist ein Jahrtausende altes Ritual bei politischem Wandel. Das gehört zu den Methoden von Politik: Beweise sammeln und fingieren, historische Fakten neu bewerten, eben: Geschichte schreiben. Und dieser Methoden bediene ich mich auch, oder besser: ich frage die Realität nach ihrer Fiktion und die Fiktion nach ihrer Realität.

Ja, was ist denn passiert? Wie haben die Bonner auf deine Provokation reagiert?
Viele haben es wörtlich genommen. Ein alter Mann hat gesagt: "200 Jahre hat man geglaubt, Beethoven ist in Bonn geboren, und jetzt stimmt das plötzlich nicht mehr. Was soll man denn jetzt mit den ganzen Büchern machen?" Und genau diese Form von Geschichtsschreibung interessiert mich. Was ist das mit diesen Büchern? Über die vermeintliche Wahrheit tradiert wird? Jahrzehntelang hat man Kinder mit Spinat vollgestopft, weil sich irgendwann jemand mit einer Kommastelle beim Eisen vertan hat, und dann wurde das tausendfach abgeschrieben. Und deshalb hat man noch eine Kelle draufgekriegt, und noch eine. Es ist ja sicher auch gesund, aber ich glaube, eine Kelle hätte gereicht.

Mit Ein Gedanke und sein Name hast du den Bonnern ja zehnfach zurückgegeben, was du ihnen vorher genommen hast: Fiktive Beethoven-Gedenk-Stellen.
Das war lustig. Als ich die Laterne vor dem Geburtshaus mit "Beethoven" beschriftet habe, hat eine Frau gefragt: "Ist das eine originale Beethoven-Laterne?" Ich habe gesagt: "Jetzt ist es eine originale Beethoven-Laterne".

Aber sie wollte doch sicher wissen, ob die schon zu Beethovens Zeiten da gestanden hat.
Das hat sie aber nicht gefragt. Das ist es ja. Der Beethoven-Blick hat was sehr Demokratisches. Jeder kann sich dort hinstellen und den gleichen Blick wie Beethoven blicken.
Genau. Wenn du daran glaubst, wirkt es vielleicht Es kann also sein, dass du dort besonders inspirierte Beethoven-Einfälle hast. Warum nennen wir unsere Schulen und Universitäten denn nach berühmten Leuten? Irgendwie hat man wohl die Hoffnung: Es lernt sich besser dabei. Deshalb habe ich auch einen Beethoven-Spielplatz geschaffen. Wenn schon der kleine Beethoven da gespielt hat, kann die Aura nicht weit weg sein.

Was machst du da eigentlich? Feierst du den Mythos oder zerstörst du ihn?
Ich erforsche ihn, hinterfrage ihn kritisch.

Sehr diplomatisch.
Indem ich sage: Beethoven – Geburtsort unbekannt leugne ich ja nicht, dass es Beethoven und seine Musik gab, und dass es die Inspiration von Beethoven gibt, und übrigens leugne ich auch nicht den Einfluss einer Flagge. Aber ich frage: Welche Funktion hat Beethoven oder eine Flagge für die Stadt und welchen Einfluss hat das auf mich? Ich gehe den Dingen ja genauso auf den Leim, ich bin da auch nicht frei von. Das war auch der Anstoß zu Die Relativistische Stadt, die bekommen hat was sie verdient, eine Wallstreet oder Suspicious Objects.

Du hast in New York verdächtige Gegenstände fotografiert, genauer: Dinge, in denen man eine Bombe vermuten könnte.
Ich war das erste Mal in meinem Leben in einem Land, von dem Krieg ausging. Ich war dort, als der Irak-Krieg begann, und mit Ultimaten Stimmung gemacht wurde. Das ganze Land wurde darauf vorbereitet, diesen Count-Down mit runterzuzählen. Wenn nicht, dann 1,2,3... Es war ein ungeheurer Druck auf den Leuten, und ich war auch aufgeladen. Games war meine Reaktion darauf.

Was haben Tom und Jerry mit einem Krieg des 21. Jahrhunderts zu tun?
Tom und Jerry explodieren selbst, das ist ein Vorgriff auf die Selbstmordattentäter unserer Zeit. Es gibt ein kollektives Gedächtnis zu diesem Material. Krieg und Comic stehen in enger Verbindung, weil Comic die Wirklichkeit vor- oder nachbereitet. Die Bombardierung von Bagdad in der live Fernsehübertragung war als Spektakel dargestellt. Und zeitgleich jagten sich Tom und Jerry auf dem Comic-Kanal. Beides ist Wirklichkeit. Beides ist konstruierte Welt.